Abstract, 6. Internationaler Otto Gross Kongress, 8. - 10. September 2006 in Wien  

"... da liegt der riesige Schatten Freud's jetzt nicht mehr auf meinem Weg" - Die Rebellion des Otto Gross

6. Internationaler Otto Gross Kongress
Wien, 8. - 10. September 2006

Abstracts

Festvortrag

Otto Gross, Subkulturen, soziale Bewegungen (Prof. Dr. mult. Rolf Schwendter, Kassel u. Wien)

Wie kaum eine andere Person, ist Otto Gross schon zu seinen Lebzeiten im Drehpunkt so ziemlich aller damals zeitgenössischen Subkulturen gestanden (ein Parforceritt durch diese, mindestens 15, Subkulturen wird im ausgearbeiteten Referat erfolgen). Seine Kontakte, Netzwerke, Freundschaften, Aversionen zu diesen sind zwischenzeitlich dokumentiert (nicht zuletzt durch das Verdienst vieler Mitglieder der Internationalen Otto Gross Gesellschaft), an einer Zusammenschau scheint es noch zu fehlen.

Darüber hinaus hat die Haltung, und auch das Netzwerk, des Otto Gross (wenn auch ein direkter Einfluss dieses, schon infolge seines frühen Tods, kaum nachweisbar ist) zur Entstehung auch künftiger sozialer Bewegungen beigetragen. Zu denken ist an abweichende Richtungen in (und aus) der Psychoanalyse, an die diversen Antipsychiatrien und Demokratischen Psychiatrien und an das "antiautoritäre Lager" der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.


Grundlagen: Wurzeln

Otto Gross als Wissenschafter (Prof. Dr. med. Alfred Springer, Wien)

Das Interesse am Schicksal des Otto Gross und an seinem Werk, das in den 70er Jahren des 20. Jh. erwachte, galt überwiegend der „postfreudianischen“ Periode in der Entwicklung von Gross. Das wissenschaftliche Frühwerk wurde in der Gross-Rezeption weitgehend ausgespart. Dabei waren es gerade diese frühen Schriften, die Freuds Interesse an dem jungen Grazer Kollegen weckten und schließlich auch dazu führten, dass Freud ihn als einen der wenigen bezeichnete, die Eigenständiges zur Psychoanalyse beizutragen imstande waren.

Tatsächlich sind diese verschollenen Schriften in ihrer Tendenz, die neurophysiologischen Überlegungen, die Freud zunächst angestellt hatte, weiter zu verfolgen, originelle Beiträge zur frühen Entwicklung der Theorie der Psychoanalyse und zum Verständnis der zerebralen Mechanismen, die bewusstes und unbewusstes Seelenleben steuern. Gleichzeitig repräsentieren sie auch eine in dieser Zeit einzigartige Auseinandersetzung mit der damals aktuellen klinischen Psychiatrie vom Standpunkt der Freudschen Theorie. Insbesondere das Bemühen, den neurophysiologischen Hintergrund der Phänomene, die das Erkenntnisinteresse der Psychoanalyse beanspruchen, aufzuhellen, verleiht dem Frühwerk von Otto Gross Aktualität, da heute erneut die Bezüge zwischen psychoanalytischer Theorie und Neurobiologie zentrale Forschungsanliegen darstellen.

Die wissenschaftlichen Wurzeln des Otto Gross (Dr. phil. Lois Madison, Hamilton)

Gross’ politische Philosophie ist die innovativste seit Hobbes. Dabei bieten seine Quellen den Zugang zu einer politisch orientierten Einschätzung seiner Schriften. Der Kern seiner politischen Philosophie wird in drei Phasen zwischen 1901 und 1907 entwickelt. In der ersten Phase beschäftigt er sich mit dem konventionellen Konzept des Willens. Vom Vater kommt die Vorstellung einer stressbedingten Relativität der Wahrnehmung, die Otto Gross hermeneutisch bestimmt, so dass die Affektlehre von Theodor Meynert, die Minderwertigkeitslehre von J. L. A. Koch und die rechtswissenschaftliche Diskussion des Naturrechts, besonders bei Adolf Merkel, zusammengenommen die Basis eines Arguments gegen Nietzsche’s Vorstellung des Affekts als Erzeuger einer durch Dominanz und Unterwerfung charakterisierten Typologie bieten. 

Prinzipiell aufgrund der Affektlehre, der Lehre der strukturmäßigen Spaltung von Wernicke, der ‘Anlage’ von Stadelmann, und der Kompensierungstheorie von Anton entwickelt Gross seine Vorstellung des Pathologisierungsprozesses, die einen sekundären Entwicklungsprozess darstellt  - temporale Verlängerung und Verkürzung eines Bewusstseinskomplexes - im Gehirn. Gegen das ‘du sollst’ – gegen die Notwendigkeit des idealistischen Zweckes im Sinne von Kant spricht Gross’ Hypothese der gegenseitig antagonistischen Komponenten der ‘Kräfte’ (die Hemmung und das, was wir vielleicht am besten einfach ein Vorwärtstreiben nennen), die den primären Prozess der Entwicklung darstellen und die die ursprüngliche Fähigkeit des Individuums, moralisch autonom zu handeln, einschließen. In der zweiten Phase wird das alte Konzept des Willens durch das Konzept der Selbstorientierung ersetzt, worauf Gross durch Fritz Hartmann aufmerksam geworden ist. Gross setzt sich in dieser Phase mit dem Kommunikationsdrang auseinander.

Ein spekulativer Einfluss von Humboldt ermöglicht einen Kontrast zu Habermas’ Struktur der Sprache als politischen Gegenstand. Für Gross ist eher die psychologische untere Ebene der Sprache politisch bedeutsam, was in etwa Humboldt’s Meinung entspricht, die Sprache diene dem Weltbild. In der letzten Phase, 1907, wirken die Komponenten auf den Prozess der Anpassung, um den Zeitraum in der Einstellung zu verändern, während eine spontane Bearbeitung der vielfachen Möglichkeiten uns eher entgeht. In seiner Erklärung wirkt die ideale Anpassung als zweckbefreit; Gross sagt, jede Anpassung sei ‘zweckmässig’. Gross nennt diesen Prozess, schlicht und einfach, agon - dessen Bedeutung als das eigentlich Politische die Untersuchung der Quellen hier ein wenig erhellt.

Zur Psychiatrie in Wien um 1900 (Dr. med. Helmut Gröger, Wien)

Vorwiegend anhand von Publikationen sowie Vorlesungen der Repräsentanten der Psychiatrie an der Universität Wien von 1880 bis 1920 wird der damalige Wissensstand bzw. die vertretenen Auffassungen dargestellt. Lehrbücher der Psychiatrie sind in diesem Zeitraum in mehrfachen Auflagen von Richard Krafft-Ebing (1840-1902), Alexander Pilcz (1871-1954) und Erwin Stransky (1877-1962) erschienen.

Es findet auch die institutionelle Entwicklung ihre Berücksichtigung, dass es zwischen 1875 und 1907 zwei psychiatrische Kliniken gegeben hat und 1907 die Landes-, Heil- u. Pflegeanstalt „Am Steinhof“ eröffnet wurde.

Dem von Theodor Meynert (1833-1892) grundgelegten rein hirnorganisch orientiertem Konzept folgt, vertreten durch Richard Krafft-Ebing, der als einziger Ordinarius nicht aus der Wiener Medizinischen Schule hervorgegangen war, ein vorwiegend psychopathologisches. Dominierend bleibt die naturwissenschaftlich, organisch-biologische Auffassung, repräsentiert durch Julius Wagner-Jauregg (1857-1940), der aber auch auf forensischem Gebiet namhaft tätig war.

Die Psychoanalyse Sigmund Freuds (1956-1939) bleibt in Kontraposition zu den Vertretern der Psychiatrie wie Wagner-Jauregg, aber auch Constantin Economo (1876-1931), der sich mit hereditären Themen auseinandersetzte oder Erwin Stransky und Josef Berze (1866-1958), die sich auf psychopathologischem Gebiet, dem der Dementia praecox (Schizophrenie) betätigten.

Besonders charakteristisch für die Wiener Schule der Psychiatrie die enge Verknüpfung der Psychiatrie mit der Neuropathologie. Alle Psychiater der Jahrhundertwende waren Neuropathologen.

Grenzen der Sublimierung. Max Webers "Zwischenbetrachtung" und Otto Gross' Kulturtheorie (Dr. med. Matthias Bormuth, Tübingen)

Otto Gross zielte auf eine psychoanalytisch unterlegte Gesellschaftstheorie, die sich kulturhistorisch auf das Mutterrecht berief. In ihrem Zentrum steht die Idee, dass eine polygame und unkonventionell gelebte Sexualität authentische und damit psychisch befreiende Erlebnisse ermöglicht. Mit den Termini Freuds gesprochen, handelt es sich um eine erotische Entsublimierung, die in der studentischen Protestbewegung 1968 eine erste Renaissance erlebte.

Der Soziologe und Modernetheoretiker Max Weber hat - biographisch über Else Jaffé mit der Wirklichkeit der „erotischen Bewegung“ vertraut -  nicht nur 1908 unmittelbar zu den theoretischen Aussagen von Gross Stellung bezogen. Das erotisch intensive Liebesverhältnis, das er in den letzten Lebensjahren neben seiner Ehe mit Frau Jaffé einging, brachte Weber dazu, in der „Zwischenbetrachtung“ (1920) die Idee der sublimierten Liebe in ihren kulturhistorischen Wandlungen zu untersuchen. Der späte Essay skizziert sowohl die ethisch und ästhetisch strenge Form der sublimierten Liebe als auch die Möglichkeit der reflektierten Entsublimierung in der Erotik.


Paneel I: Beziehungen

Wilhelm Stekel & Otto Gross (Josef Dvorak, Wien)

Von Juli 1914 bis nach Kriegsbeginn befand sich Otto Gross in psychoanalytischer Behandlung bei Wilhelm Stekel in Bad Ischl und in Wien. Wie Stekel später in seinem Nachruf auf Gross („In Memoriam“, in: „Psyche & Eros“, New York 1920) erklärte, stellte sich dabei heraus, dass Gross keineswegs an „Dementia praecox“ litt, wohl aber an einer schweren, durch Drogensucht (Opium und Kokain) komplizierten Neurose. Die Therapie führte zu einer Besserung der Gesundheit, und er wurde wieder arbeitsfähig - als wissenschaftlicher Autor und als Klinikarzt.

Nicht nur Otto Gross profitierte von dem Arbeitsbündnis. Auch Wilhelm Stekel, der seinen Klienten immer wieder beruflich förderte (selbst die posthume Publikation der letzten Arbeiten von Gross ist auf Stekels Initiative zurückzuführen) fühlte sich durch Termini (z.B. „das Eigene und das Fremde“) und Interpretationen von Otto Gross (z.B. die sexuelle Wurzel der Kleptomanie) bereichert. Allerdings waren die ideologischen Konzepte und politischen Ansichten der beiden konträr: „negativer“ versus „positiver Vaterkomplex“, Anarchie gegen Sozialdemokratie. Für wie schwer Stekel die Gestörtheit von Otto Gross einschätzte, geht aus der (anonymisierten) Fallgeschichte Nr. 37 („Die Tragödie des Analytikers“) in Bd. VIII („Sadismus und Masochismus“) von Stekels „Störungen des Trieb- und Affektlebens“ hervor. Darauf wird im Vortrag detailliert eingegangen werden.

Der erste Weltkrieg verhinderte die Fortführung einer regulären therapeutischen Beziehung zwischen Wilhelm Stekel und Otto Gross, dessen Widerstand (so Stekel) gegen tiefere Selbsterkenntnis wieder durch das betäubende Opium unterstützt wurde. Gross habe sich mit Psychoanalyse befasst, noch bevor er selbst gründlich analysiert worden sei. Alle Neurotiker, die sich selbst analysieren wollen, kämen dabei an eine unpassierbare Stelle, über die selbst größere Gelehrsamkeit nicht hinweghelfen könne. Das sei auch die Tragödie des Otto Gross gewesen.

Brudermord auf der Couch: C. G. Jung und Otto Gross (Dr. phil. Gottfried Heuer, London)

Der Beitrag behandelt die persönliche und berufliche Beziehung von Jung und Gross, sowie den Einfluss Gross' auf Leben und Werk von Jung.

Der Widerspruch zwischen Gross´ Ideen und dem Denkkollektiv seiner Zeit (Prof. Dr. phil. Bozena Choluj, Warschau u. Frankfurt/Oder)

Als revolutionärer Denker, mutiger Experimentator und reger Geist musste Otto Gross zu Lebzeiten Einzelgänger ohne Zugang zu den psychoanalytischen Kreisen, die sich um Sigmund Freud bildeten, bleiben. Wenn man bedenkt, dass Freud ein großer Pragmatiker war, der seine psychoanalytischen Erkenntnisse sehr vorsichtig, erst nach ihrer Absicherung durch die Experimentalpsychologie und Medizin einführte und sich konsequent um die institutionelle Etablierung der Psychoanalyse als Lehre und Praxis bemühte, verwundert es nicht, dass er nicht versucht hat, Otto Gross als den Andersdenkenden für sich zu gewinnen. Im Gegenteil, er versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. Dies misslang, doch gelang ihm die konsequente Isolation seiner Person, u.a. durfte er in der Internationalen Zeitschrift für die Psychoanalyse nicht publizieren. Max Weber nahm ihn auch nicht ernst. Eine Art Akzeptanz fand er nur unter Künstlern und Schriftstellern. Auf die Frage nach den Gründen der Isolation wird zumeist vereinfacht geantwortet, dass Gross nicht kommunikativ, schwer im Umgang und kokainsüchtig war. In der gutmutigen Antwort nimmt man an, dass er mit seinen Ideen ein zu früh Gekommener war, denn erst mit dem „Unbehagen in der Kultur“ hätte Sigmund Freud ein offenes Ohr für seine Erkenntnisse und Thesen gehabt.

Diese beiden Antworten greifen zu kurz, sie erscheinen meistens, wenn man keine bessere Erklärung dafür hat, dass jemand am Rande bleibt, obwohl er das leistet, was sich nach einer kurzen Zeit als richtungweisend erweist.

Ich werde mit Hilfe von Kategorien von Ludwik Fleck versuchen, den Mechanismus der Marginalisierung darzustellen, dem Otto Gross zu Opfer fiel, als seine Ideen die „wissenschaftliche Tatsache“ der Psychoanalyse zu gefährden begann, für die sich Freud einsetzte. Otto Gross gehörte nicht zu dem gleichen Denkkollektiv, dem Sigmund Freud angehörte. Die so genannte wissenschaftliche Wahrheit verträgt in der frühen Phase ihrer Konstituierung keine Ausnahmen und Zweifeln. Gross dachte zwar auch in psychoanalytischen Kategorien, aber im Zentrum seiner Ideen stand nicht die Wiedereingliederung des Individuums in die Gesellschaft, sondern seine Befreiung.

"Die Suggestion der Sprache": Otto Gross und seine Briefe an Frauen (Prof. Dr. phil. Erdmute Wenzel White, West Lafayette)

Der verheiratete Otto Gross (1877-1920) unterhält 1907 ein Liebesverhältnis mit zwei Frauen, Else Jaffé (1874-1972) und Frieda Weekley (1879-1956). Gross sieht in diesem angeblich komplexlosen Experiment eine Bestätigung seiner wissenschaftlichen Theorie erotischer Befreiung. Er glaubt, es sei möglich gesellschaftspathologische Zusammenhänge zu sprengen und einen radikalen Gesellschaftswandel zu erreichen. Trotz emotionsgeladener Reaktionen der Mitwirkenden, scheint dies vorübergehend zu gelingen. Doch übrig bleiben am Schluss bestenfalls wehmütige Erinnerungen. Das glückliche Dreier- oder, mit Frieda Schloffer-Gross, Vierergestirn, mag es nie gegeben haben.

Die Nachwelt kann das Beziehungsgeflecht am ehesten in meist undatierten Briefdokumenten nachvollziehen. Ottos Briefe stammen aus jener Phase seiner Biographie, da er sich von Freud emanzipiert, sind Schauplatz für sein Wirken an der idealen Einheit von Wissenschaft und Leben. Seine Briefe bilden zugleich eindrucksvolle Dokumente einer permanenten Verzögerung. In dieser Arbeit werden die Texte in einer Diskursanalyse auf ihre Suggestionskraft untersucht, nämlich auf ihre besondere Art zu sprechen, auf Sprache als inszenierte Wahrnehmung und zurechtgerücktes Signum der Liebe.

Es geht zunächst um Schrift/Pysikalität, Klangpanorama und motivische Verlaufsformen des Textes. Folgende Fragengebiete werden sprachanalytisch gewertet: wie gelingt es Gross sich selbst eine ideologisch und mythisch überhöhte Struktur zu geben? Mit welchen stilistischen Mitteln sucht Gross die emotionale Reaktion seiner Leserin zu prägen? Wie nähert sich Gross dem geschriebenen Sex? Und wie verortet er Gefühle in ein Bedeutungssystem? Die Briefanalyse zeigt, daß zündender, unsentimentaler Sex als natürlicher Akt der Sinnlichkeit unterbunden und in rhetorische Beschallung verwandelt wird. Die erotische Befreiung bleibt nicht greifbar.

Die hier vorliegende Arbeit versucht die Briefe von Otto Gross und der mit ihm leidenschaftlich verbundenen Frauen, aus der Perspektive der Adressatinnen zu erschließen. Gross leistet in der Liebe wissenschaftliche Verifizierung und therapeutische Intervention. Doch vermochte Gross sein Credo auch praktisch einzulösen? Wie reagiert er, wenn sich eine Frau von seinen Vorstellungen emanzipiert? Wie gestaltet er seine Rückzugsstrategie und wie verfasst er einen Abschiedsbrief an die Geliebte? Die vorgestellte Studie schließt mit der Diskussion seines Briefes an Frieda Schloffer-Gross, einem Brief, in dem Otto Gross seine “bewusstesten” Sätze geschrieben haben mag.

Max Weber und die Anarchisten (Dr. jur. Albrecht Götz v. Olenhusen, Freiburg)

Die Skizze über Max Webers Haltung zum Anarchismus und Anarchisten stellt Max Webers Ansichten zum Anarchismus im Kontext seiner politischen Auffassungen dar. Für Max Weber waren die anarchistischen  Ideen prototypisch für gesinnungsethische politische Ideen. Webers Modell der Verantwortungsethik schließt auch die Wahl extremer Positionen ein und die rationale Prüfung der möglichen Konsequenzen.

Webers politische, wissenschaftlichen und persönliche Haltung gegenüber anarchistischen Ideen und seine praktische Haltung gegenüber einzelnen Persönlichkeiten wird in dieser Präsentation beispielhaft dargestellt: Frieda und Otto Gross, Ernst Frick, Erich Mühsam, die Teilnehmer der Befreiungskampagne, insbesondere Franz Jung, Simon Guttmann und Franz Pfemfert, und schließlich Ernst Toller. Grundlage sind u.a. neben den inzwischen vorliegenden Briefwechsel in der Max-Weber-Gesamtausgabe auch einige noch nicht publizierte Dokumente aus der Zeit zu Beginn der prozessualen Auseinandersetzungen zwischen Hans Gross und Frieda bzw. Otto Gross vor dem Bezirksgericht Graz 1913/1914 und Material zu Ernst Toller aus seinem Verfahren vor dem Standgericht in München (1919).

Das "wissenschaftliche Gewissen der Psychiatrie": Hans Walter Gruhle (Claudia Böhnke, Bonn)


Paneel II: Trauma, Schmerz, Sucht

Fragilität und Stabilität - zur Anthropologie der Sucht (Dr. med. Jann E. Schlimme, M.A., Hannover)

Im psychiatrischen Diskurs verstehen wir Sucht und Abhängigkeit zumeist von einer als unveränderlich angenommenen Angewiesenheit des Abhängigen auf sein Suchtmittel her. „Lebensweltliche“ Verständnisse und auch therapeutische Interessen widersprechen einer reduktionistisch-strengen Interpretation dieser Verständnisthese. Entlang der Innenperspektive des süchtigen Menschen wird ein Ansatz einer philosophischen Anthropologie der Sucht vorgestellt, der sich am Gedanken des „Absolut-Werdens der psychotropen Technik“ entwickelt. Das süchtige Selbst und die zugehörende Selbstvergewisserung können darin – etwas idealtypisch – als „fragile Monoidentität“ verstanden werden, die sich durch diese "psychotrope Technik" permanent stabilisiert und stabilisieren muss.

Otto Gross war bekennendermaßen opiatabhängig und mutmaßte in Phasen tiefer Selbsteinsicht, dass ihm die "Unbekümmertheit der Selbstsicheren" fehlte, dass all sein Tun nur "maskierte Schwäche" sei. Vielleicht hat Gross diese gespürte Fragilität seiner selbst durch den Konsum von Morphium mehr oder weniger absichtsvoll stabilisiert. Zumindest aber nahm er (phasenhaft) in seinem Ringen um sich selbst an, dass er ohne Morphin nicht aus den von ihm gewünschten Tiefen seiner selbst schreiben könne. So schreibt er 1907 an Frieda Weekley: "Siehst Du, ich besitze Morphium genug und brauche nur etwas davon zu nehmen, dann löst sich dieser Bann und dann kehrt die Fähigkeit des Ausdrucks wieder: dann kann ich Dir das richtige Bild davon geben, wie meine Seele sich in heisser Liebe zu Dir aufmachen will." Vor dem Hintergrund der anthropologischen Überlegungen eröffnen sich hier die Fragilität und Stabilität des eigenen Identischseins und der Vergewisserung desselben als zentrale Aspekte eines Verständnisses der Sucht.

Die Katastrophen der Kindheit und ihre Auswirkungen im Leben der Erwachsenen (Univ.-Prof. Dr. med. Marianne Springer-Kremser, Wien)

Das Wissen um Einzelheiten aus der Biographie von Otto Gross erlaubt wohl die Annahme, aus psychoanalytischer Sicht, dass seine Lebensgeschichte von frühester Kindheit an von traumatisierenden Erfahrungen und paternalistischer Gewalt geprägt war. Es ist nicht die Intention, eine ‚pathographische‘ Interpretation der Persönlichkeit des Otto Gross anzubieten, sondern ein Versuch, problematische Lebensentwürfe vor dem Hintergrund von traumatisierenden Kindheitserfahrungen zu verstehen. Dafür werden psychoanalytische Traumatheorien und André Greens ‚La mère morte‘ herangezogen.

Die Attraktion, welche die ‚Freud’sche Schule‘ auf Otto Gross ausübte war eventuell auch von der Bedeutung motiviert, die in Freud’s Darstellung von Krankengeschichten Kindheitserfahrungen und ihren psychischen Umgestaltungen für die Entwicklung von psychischen Krankheitsbildern beigemessen wurde. Die psychoanalytische Theorie ist bemüht, ein möglichst umfassendes Verständnis der Folgen von individueller und sozialer Gewalt und von Traumatisierungen zu gewinnen. Das psychoökonomische Traumamodell Freuds und anderer früher Psychoanalytiker erfährt durch die Konzeption des Traumas auf Basis der Objektbeziehungstheorien eine wichtige Ergänzung. Angst, besonders ihr ökonomischer Aspekt, gilt als Prüfstein der unterscheiden hilft, was traumatisch wirkt oder ‚nur‘ pathogen ist.

Schließlich wird diskutiert, inwieweit süchtige Entwicklungen als Versuch verstanden werden können, für die "Nachträglichkeit" des traumatischen Erlebens ein Containment zu schaffen.

Die "eiserne Klammer um Kopf und Herz" - Trauma und Sucht des Otto Gross (Raimund Dehmlow & Dr. med. Torsten Passie M.A., Hannover)

Diese kurze Studie bezieht ihre Berechtigung aus der Tatsache, dass sich bisher offenbar nicht zusammenhängend mit der Psychopathologie von Otto Gross und den daraus resultierenden diagnostischen Implikationen auseinandergesetzt wurde. Sie versucht aus der Biographie, unter Einschluss auch der durch andere Personen beschriebenen, psychopathologischen Symptomatik und Persönlichkeitsentwicklung abzuleiten, welche diagnostischen Kategorien unter Zugrundelegung der modernen Psychiatrie in Frage kommen könnten. Es handelt es sich somit um einen Rekonstruktionsversuch (einschließlich spekulativer Anteile) der kennzeichnenden Persönlichkeitseigenschaften, Beziehungsdynamik und Lebenspraxis des Otto Gross. Damit wird dem theoretischen Gestalten und Wirken von Otto Gross keine Pathologisierung unterschoben, auch wenn Persönlichkeit, Werk und psychopathologische Entwicklung zweifellos vielfältige Wechselwirkungen aufweisen. Aus der Studie ergibt sich nach Ansicht der Autoren, dass es sich bei dem Krankheitsbild des Otto Gross um eine Persönlichkeitsproblematik gehandelt haben könnte, die heute als emotional instabile Persönlichkeitsstörung ("Borderline-Syndrom").

Trauma und Schmerz / Otto Gross. Selbstbegründung und Sohnesopfer in den Anfängen der Psychoanalyse (Dr. med. André Karger, Düsseldorf)


Grundlagen: Emanzipation

Otto Gross, Hans Gross und Sigmund Freud (Prof. Dr. phil. Michael Rohrwasser, Berlin u. Wien)

Freud, Hans und Otto Gross: ein solcher Titel impliziert, dass bekannte Geschichten wiederholt werden - aber vielleicht verhilft dies zu einer neuen Perspektive.

Eine der seit den 1960er Jahren häufig wiedererzählte Geschichte handelt von der Verhaftung des Otto Gross im November 1913. Dass ein Gutachten von C. G. Jung die folgende Internierung seines ehemaligen Patienten unterstützt hat, war damals bekannt, nicht aber was wir heute wissen, dass auch Freud dafür ein Gutachten geliefert hat.

Damit stellt sich die Frage mit Nachdruck: Wie kommt es, dass Freud - zumindest 1913 - eine größere Nähe zu dem Vater, dem Kriminologen Hans Gross hatte als zu seinem Schüler, dem Psychoanalytiker Otto Gross?

Der Versuch einer Antwort verweist uns auf Freuds wissenschaftspolitische Strategie, in der die unheimliche Vorgeschichte der Psychoanalyse, die im expressionistischen Film (Caligari, Mabuse) wieder auf die Leinwand projiziert wird, eine entscheidende Korrektur erfahren soll. Freud ortet sich (die junge Psychoanalyse) am kriminalistischen Pol. Hinter der Selbstverständlichkeit, mit der die Psychoanalyse sich auf die Seite der Kriminalistik stellt (angefangen mit Freuds Vortrag "Tatbestanddiagnostik und Psychoanalyse", den er auf Einladung von Hans Gross hält), verbirgt sich die bekämpfte Traditionslinie von Coppelius und Caligari, die Entstehung einer unheimlichen Psychoanalyse aus dem Geist des Mesmerismus und der Hypnose. Mit der Verwandlung des dämonischen Hypnotiseurs in einen Agenten der Gesellschaft wird ein paradigmatischer Seitenwechsel postuliert. Der Scharlatan und Verführer hat sich in einen Detektiv verwandelt, die Couch wird vom Jahrmarkt ins Ordinationszimmer gerückt. Damit werden Otto Gross und dessen gesellschaftspolitische Interpretation der Psychoanalyse zum Gegner.

Eros und Emanzipation. Praxis der Theorie / Theorie der Praxis (Markus Brunner, Hannover)

Otto Gross war der erste einer Reihe sogenannter „Linksfreudianer“, welche die Psychoanalyse einerseits gesellschaftskritisch zu wenden und damit als Theorie zu politisieren versuchten, andererseits aber auch – und dies will ich in meinen Ausführungen genauer betrachten – die psychoanalytischen Erkenntnisse für eine emanzipatorische politische Praxis jenseits der Couch fruchtbar machen wollten.

Die Gross’sche Theorie der Praxis folgt logisch aus seinen gesellschaftstheoretischen Überlegungen: Die in der Theorie dargelegte gesellschaftliche Unterdrückung und Verdrängung der „natürlichen Anlagen“ im Menschen ruft nach einer praktischen Befreiung dieses harmonisch gedachten „Eigenen“ vom schädlichen „Fremden“ – das schlechte Gesellschaftliche soll zerschlagen werden, damit die angelegte Individualität sich ohne Hindernisse entfalten könne.

Der Schritt vorwärts zu einer gesellschaftskritischen Politisierung der Psychoanalyse wird damit m.E. aber durch bedeutende theoretische Rückschritte erkauft: Zumindest immanent erfasste Freud den dialektischen Charakter des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft: die Gesellschaft bringt das Individuum, seine Wünsche und seine Lebensentwürfe, seine „Individualität“, die sie beschneidet, zugleich auch erst hervor. Die Verkennung dieses Verhältnisses als ein statisches Repressionsverhältnis ist einen hoher Preis, wird dadurch doch, kaum wurde das Feld des Politischen aufgemacht, dieses schon wieder geschlossen mit Rekurs auf eine vermeintlich unmittelbar zu erkennende und zu befreiende menschliche Natur. Damit wird die Möglichkeit einer wirklich umwälzenden Veränderung von Gesellschaft und Mensch zunichte gemacht.

In meine Reflexion über die Problematik einer Konzeption, die einen im Innersten guten menschlichen Wesenskern, für den klassischerweise der Begriff des „Eros“ steht, von gesellschaftlichen Zwängen befreien will, werde ich – neben Gross’ Version – auch noch die gesellschaftstheoretischen Entwürfe von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse und die daraus folgenden Praxismodelle zum Vergleich miteinbeziehen. Inwiefern werden diese der angesprochenen Dialektik gerechter? Und werden hier Emanzipationsfelder eröffnet, die ohne die normative Keule eines vermeintlich Natürlichen auskommen?

Diesen Fragen nachgehend hoffe ich zumindest Subversionspotentiale einer an gesellschaftskritisch gelesener Psychoanalyse geschulten Praxis aufscheinen zu lassen.

Von der bürgerlichen Jugendbewegung zum Linkskommunismus - Der Weg des Simon Guttmann und seiner Freunde (Prof. Dr. phil. Diethart Kerbs, Berlin)

Es geht um die Lebensgeschichte von Wilhelm Simon Guttmann, geboren 1891 in Wien, gestorben 1990 in London. Er war Literat, politischer Autor, Geschäftsführer von Bildagenturen und Inspirator verschiedener Fotografengruppen. Er war der letzte Überlebende der Berliner Expressionisten-Szene um 1912 und der Züricher Dadaisten-Zirkel im Cafe Odeon um 1917. "Man sagt über ihn in Künstlerkreisen, daß er ein ziemlich mysteriöser Mensch sei“, berichtete Emil Szittya aus dem damaligen Züricher Exil (Szittya 1923, S. 284).

Guttmann war mit Walter Benjamin in der "Freideutschen Jugendbewegung“ aktiv und wurde von diesem eine Zeitlang unter seine wichtigsten Freunde gezählt, kommt aber in dem großen Benjamin-Handbuch, das gerade erschienen ist, mit keiner Silbe vor. Er hat mit Franz Jung 1913 in der Münchener Zeitschrift "Revolution“ den Aufruf "Rettet Otto Gross!“ veröffentlicht. Er war mit den Malern der Künstlergemeinschaft „Brücke“ befreundet, mit Wieland Herzfelde bei den Spartakisten, mit Franz Jung und Alexander Schwab bei den Gründern der KAPD. Er lebte 1923 zwei Wochen bei Ossip und Lilja Brik in Moskau und frühstückte mit Majakowski, anschließend brachte er die ersten sowjetischen Filme nach Berlin. Er war 1910 der Entdecker des Dichters Georg Heym und 1932 der erste Arbeitgeber des Fotografen Robert Capa. Er wurde fast 100 Jahre alt. Ich will versuchen, seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, soweit das heute noch möglich ist.

Pierre Ramus - Neuschöpfung der Gesellschaft (Dr. phil. Dieter Schrage, Wien)

Frauenbewegungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Traditionslinien, Differenzen und Transformationen (Prof. Dr. phil. Ingrid Miethe, Darmstadt)

Über Frauenbewegungen im 20. Jahrhundert in Deutschland zu sprechen, heißt immer auch über die politischen Ereignisse dieses Jahrhunderts sprechen zu müssen. Dieses 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert roter und brauner Diktaturen, ein Jahrhundert das zwei Weltkriege gesehen, Nationalsozialismus und Völkermord hervorgebracht hat. Und: es ist auch ein Jahrhundert extremer Polarisierungen, die nicht zuletzt in der Teilung Deutschlands und im Kalten Krieg seinen äußeren Ausdruck gefunden hat. Es wäre sicherlich eine Illusion anzunehmen, dass diese Ereignisse die Entwicklung von Frauenbewegungen in Deutschland, wie auch das Denken und Fühlen einzelner Frauen, die in diesen Bewegungen aktiv waren nicht massiv mit bestimmt und geprägt hätten.

Soziale Bewegungen allgemein, und so auch die Frauenbewegung, entwickeln sich nicht zuletzt dann, wenn zentrale Themen gesellschaftlich ausgeblendet oder ignoriert werden und somit nicht Teil der institutionalisierten, staatlichen Politik sind und derartige zunächst individuell erlebte Unrechtserfahrungen in ein kollektives Unrechtsbewusstsein umschlagen. Es ist die Funktion sozialer Bewegungen entsprechend auf Defizite des momentanen gesellschaftlichen Status quo hinzuweisen und somit zum Motor gesellschaftlichen Wandels zu werden.

Im Tagungsbeitrag wurde aufgezeigt, wie sowohl die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen, genauso wie die jeweilige soziale oder ethnische Herkunft der Frauen die Positionen der verschiedenen Frauenbewegungen in Deutschland mit bestimmt haben. Nicht zuletzt, das, was jeweils als Emanzipation verstanden wurde, und bei unterschiedlicher Definition auch zu heftigen Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen oder Frauen führte, hängt von diesen gesellschaftlichen und persönlichen Rahmungen ab.

Dies wurde für drei Zeitabschnitte nachgezeichnet:

1.     Die Zeit vor 1945 als gemeinsame Wurzel der Frauenbewegungen in Ost und Westdeutschland

2.     Die Zeit der Ost-West-Teilung (1945 - 1989)

3.     Die Zeit während und nach der deutschen Wiedervereinigung

Ein derartiger Blick zurück auf Frauenbewegungen dieses 20. Jahrhundert macht deutlich:

1.     Es erwies sich immer wieder als schwierig, Forderungen zu formulieren, die für Frauen insgesamt Gültigkeit beanspruchen können. Frauen gehören immer auch einer sozialen Schicht an und sind Angehörige unterschiedlicher Ethnien. Die Anerkennung derartiger Differenzen und der bewusste Umgang damit ist die wohl wesentliche Aufgabe der folgenden Jahre und wird durch den europäischen Vereinigungsprozess wichtiger denn je.

2.     Der Blick zurück zeigt aber auch, dass in diesem Jahrhundert eine Vielzahl der Forderungen von Frauenbewegungen umgesetzt werden konnten, die heute selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind. D.h. auch, dass über die Frauenbewegung als sozialer Bewegung viele Themen und Bereiche Teil der institutionalisierten Politik geworden sind (z.B. Wahlrecht, Recht auf Arbeit und Bildung, Veränderung des öffentlichen Diskurses u.v.a.), die dies zu Beginn dieses Jahrhunderts noch nicht waren und ohne die Aktivität von Frauenbewegungen auch nie geworden wären. Mit dieser Verschiebung des öffentlichen Diskurses ging auch eine Veränderung von Frauenbewegungen einher in dem Sinne, dass diese heute in weiten Teilen ihren Bewegungscharakter verloren hat und Teil der institutionalisierten Politik geworden ist.


Paneel I: Caféhaus

"Brutstätten revolutionärer Ideen" - Politik im/und Kaffeehaus (Dr. phil. Gerhard Dienes, Graz)

„Kaffee ist im Café nicht Zweck, sondern Mittel“, schrieb Hans Weigel einmal. Dem ist nicht restlos zuzustimmen, denn der Kaffee als ernüchterndes, den Geist anregendes Getränk hat als solcher mitbewirkt, dass das Kaffeehaus zu dem wurde, was es ist respektive war. Aber es wurden und werden im Kaffeehaus auch andere Getränke gereicht, man denke nur an den „Neunziggrädigen“, mit dem sich so viele in den Romanen Josef Roths vornehmlich in den östlichen Ländern der Donaumonarchie bis zur Besinnungslosigkeit betäubten. Doch das ist eine andere Geschichte.

Auf jeden Fall wurde das Kaffeehaus zu einem Ort multipler Funktionen.

„Da wird Krieg geführt, Friede geschlossen, da werden Staatsgeheimnisse entwickelt, Länder aufgetheilt, vertauscht, da wird gepredigt, moralisirt, geschimpft, die Stadtchronik repetirt, von Familienangelegenheiten gesprochen – kurz, alles, was man sich nur denken konnte.“ (Skitze von Grätz, 1781)

Als Ort des Gesprächs war das Kaffeehaus schon von Anfang an auch Szene politischer Diskussionen. Mit seiner Etablierung im 17. und 18. Jahrhundert wurde eine Öffentlichkeit geschaffen, die um so revolutionärer erscheint, wenn sie vor dem ständisch-gesellschaftlichen Hintergrund gesehen wird, der nicht nur zwischen Adel, Geistlichkeit, Bürgertum und Bauern unterschied, sondern auch innerhalb der einzelnen Stände noch scharfe Abgrenzungen vornahm.

„Es ist ein Vorzug des Kaffeehauses“, hat Montesquieu gesagt, „dass man hier den ganzen Tag und ebenso nachts unter Leuten aus allen Klassen sitzen kann“ – dieser Pluralismus zeichnet bis heute das echte Kaffeehaus aus, wie Claudio Magris betont.

Im Kaffeehaus gab es eine bisher nie gekannte Zwangslosigkeit. Es hielt fest, was man von Freiheit erträumte. Nicht umsonst wurden Revolutionen – politische und künstlerische (man denke nur an die „Geburt“ des Dadaismus im Zürcher Café de la Terrasse oder an die Bedeutung der Schwabinger Cafés für die Bohéme) – im Kaffeehaus erdacht.

Das Kaffeehaus förderte freiheitliches Denken und Handeln und hat in diesem Sinne die politische Geschichte der europäischen Moderne mit geschrieben.

In London waren die Kaffeehäuser seit ihrem Bestehen Orte der politischen Opposition.

Im Paris des Jahres 1789 galten einige Cafés als „Brutstätten revolutionärer Ideen“ und es war das „Café de Foy“ – auch „Café des Patriots“ genannt – in dem Camille Demoulins die Erhebung ausrief.

Auch im europäischen Revolutionsjahr 1848 wurden Kaffeehäuser Foren der Politik; so traf sich im Frankfurter „Café Milan“, ebenso wie im Nürnberger „Cafe Rössl“ die äußerste Reaktion und im „Tommaseo“ in der altösterreichische Hafenstadt Triest wurden erste irredentistische Gedanken gesponnen.

In Berlin verkehrte die Opposition gegen den preußischen König im „Café Stehely“ am Gendarmenmarkt. In dessen Lesesaal, dem so genannten „roten Zimmer“, trafen sich Schriftsteller und Redakteure der radikal politischen Partei, hier war der junge Karl Marx Stammgast. Zürich wiederum hatte insbesondere zur Zeit des Ersten Weltkriegs seine Relevanz durch die Emigrantencafés.

Eine besondere Kaffeehaustradition hat Wien. Die Wiener Cafés galten als Art demokratischer Club und es war in einem Wiener Kaffeehaus, in dem erstmals feste Leserahmen für die dort aufliegenden Zeitungen – auch ein Kaffeehaus-Spezifikum – Verwendung fanden.

Das 1847 gegründete „Griensteidl“ wurde schon ein Jahr später zum Treffpunkt der freisinnigen Dichter, hier fanden die liberalen Ideen einen dermaßen fruchtbaren Boden, dass es bald den Beinamen „Café National“ erhielt.

Im „Café Central“, in dem Leo Trotzki über Jahre verkehrte, trafen sich in den Umbruchstagen Ende 1918 Franz Werfel, Otto Gross und andere, revolutionäres Gedankengut mit sich tragend („Ganz Wien in die Luft sprengen!“). „Die Menschen waren jung und der Kommunismus auch. Es war ein Heldenzeitalter.“ (Anton Kuh) Den revolutionären Ideen wurde durch den Nationalsozialismus ein jähes Ende bereitet.

„Ich sitze jeden Abend in dem großen, halbleeren  Künstler-Café an der Gedächtniskirche, wo Juden und linksgerichtete Intellektuelle noch über den Marmortischen die Köpfe zusammenstecken und leise und verängstigt miteinander reden. Viele wissen genau, daß ihnen die Verhaftung bevorsteht.“ Diese Notizen Christopher Isherwoods, Anfang der 1930er Jahre Sprachlehrer in Berlin, über das bald danach zerstörten „Romanische Café“ wurde die Vorlage zum Musical und Film „Cabaret“.

Heute, so sagt man, renne das Kaffeehaus seinem eigenen Mythos hinterher. Wer sich ihm nähere, geriete ins Stolpern über all die Verweise auf seine Blütezeit, als es noch Brennpunkt der Literatur und Musik, der Malerei, der Architektur und auch der Politik war.

Franz Werfel, "Barbara oder die Frömmigkeit" und die Revolution in Wien 1918 (Prof. Dr. phil. Hans Hautmann, Linz)

Im Jahr 1929 erschien im Paul Zsolnay Verlag Berlin-Wien-Leipzig Franz Werfels Roman „Barbara oder Die Frömmigkeit“. Da seine Hauptfigur, „Ferdinand“, deutlich autobiographische Züge trägt und in dem Buch sowohl die Schrecknisse des Ersten Weltkriegs als auch Werfels Erlebnisse in den letzten Monaten Österreich-Ungarns und während des revolutionären Umbruchs in Wien des November 1918 geschildert werden, erregte es großes Aufsehen.

Unter den Personen, denen „Ferdinand“ nacheinander begegnet, befinden sich „Ronald Weiß“ (Egon Erwin Kisch), „Hedda“ (Gina Kaus), „Basil“ (Franz Blei), „Gottfried Krasny“ (Otfried Krzyzanowski), „Dr. Dengelberger“ (Karl Renner), „Koloman Spannweit“ (Carl Colbert), „Aschermann“ (Josef Kranz) und nicht zuletzt auch „Gebhart“ (Otto Gross).

Der 800 Seiten umfassende Roman zählt zu den eindringlichsten und besten Beschreibungen der Atmosphäre im dahinsterbenden Habsburgerreich und der stürmischen Tage des Kriegsendes und der „österreichischen Revolution“.

Das Referat geht auf die Frage der Authentizität der Darstellung ein und stellt ihr Werfels tatsächliche damalige Motivationen und Handlungen, soweit sie historisch belegt sind, zur Seite. Nicht zuletzt wird auch das Phänomen der Anfälligkeit von Intellektuellen, Künstlern, Bohemiens für ultraradikales Auftreten in Zeiten proletarischer Massenbewegungen und revolutionärer Umwälzungen zur Sprache gebracht.

Die Realität des Hungers am Beispiel Otfried Krzyzanowski mit einem Exkurs zu Franz Kafka (Prof. Bakk.phil. Rotraut Hackermüller, Wien)

Das traurige Schicksal des im Wiener Literatenmilieu beheimateten Lyrikers Otfried Krzyzanowski wurde am 30. November 1918 vom „Tod an Entkräftung“ besiegelt. Seine Lebenszeugen haben ihn als rätselhaften Exzentriker im Gedächtnis bewahrt. Der auffälligen Eigenart seines Wesens und seiner Erscheinung wurde von ihnen offensichtlich weit mehr Interesse entgegengebracht als seinen beklagenswerten, von ihnen nie ernsthaft hinterfragten Daseinsbedingungen - das bezeugen die Irrtümer in den Nachrufen und Erinnerungsberichten. Die bisher nicht bekannte, im Neuen Wiener Journal veröffentlichte Entgegnung seines Vaters auf einen Nachruf enthält Mitteilungen, die erstmals die Möglichkeit bieten, das bisherige Bild von der Persönlichkeit seines Sohnes und die Ursachen seines tragischen Endes aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Sie liefern auch weitere Anhaltspunkte für die Erhellung von Otfried Krzyzanowskis Biografie.

Die Einsamkeit des Anton Kuh (Prof. Ulrich N. Schulenburg, Wien)

Die Einsamkeit des Anton Kuhs ist einer näheren Betrachtung wert. Natürlich gibt es mehrere Formen der Einsamkeit, aber man sollte jene untersuchen, die möglicherweise auf Anton Kuh zugetroffen haben könnten.

Ausgenommen von diesen Betrachtungen sind selbstgewählte Einsamkeiten, z.B. als Ordensbruder, als Asket oder Einsiedler und die selbst verschuldete Einsamkeit eines Gefängnisaufenthaltes.

Die Einsamkeit ist laut Lexikon die Abgeschiedenheit des einzelnen Menschen von seiner Umwelt im räumlichen oder seelischen Sinn.

Im Ablauf der Zeiten hat sich die Einsamkeit sowohl in der literarischen Ausformung, als auch in psychischer Hinsicht unterschiedlich dargestellt.

In der Mystik galt die Einsamkeit als Abgeschiedenheit der Seele; in der Aufklärung als Zurückgezogenheit des Einzelnen zum Zweck geistiger Tätigkeit und der eigenen Selbstvervollkommnung durch Selbsterkenntnis; in der Zeit der Empfindsamkeit als Innerlichkeit des auf sich zurückgezogenen von der Umwelt isolierten Ich, verbunden mit Schwermut, Leiden und differenzierter Selbstwahrnehmung der eigenen Gefühle.

Um bei Anton Kuh auf eine vermutete Zuweisung zu kommen, muss man vor allem zwei wesentliche Faktoren in seinem Leben miteinbeziehen: eine Periode ist die vor seiner erzwungenen Flucht, die andere jene Zeit bis zu seinem Lebensende, die er in den USA verbrachte.

Darüber hinaus muss man das zeitliche Umfeld, in dem er lebte, mit einbeziehen und natürlich seine jüdische Abstammung.

Das zeitliche Umfeld der 1920er und 1930er Jahre war geprägt durch die Umgruppierung der gesellschaftlichen Schichten und die Neuformierung politischer wie gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine besondere Position nahmen die aus den ehemaligen österreichischen Kronländern der Habsburger Monarchie stammenden Juden ein. Diese hatten sich sehr deutlich unterschieden von den neu angesiedelten Juden, die aus dem noch ferneren und weiteren Osten stammten.

Jene Juden, die bereits assimiliert waren und zum Teil gegen ihr Judentum agitierten, sahen auf die Neuzuwanderer mit teilweiser Verachtung herab.

Anton Kuhs familiäre Wurzeln sind in Prag zu finden. Einige seiner Vorfahren waren bereits literarisch tätig. Der Prager Geist, der für Freiheit, Toleranz und Liberalisierung stand und der manchmal unterdrückt war, war sozusagen das Lebenselixier des Anton Kuh, sowohl im Handeln wie im Tun.

Es war eine Zeit zwischen Torschluss und Anfang. Zwei Kulturen lösten einander ab. Der adelige Mensch wich dem gemeinen, der Geist streckte die Waffen, der Plebejer regierte das Zwischenreich. Anton Kuh schrieb schon damals aus dieser Abschiedsstimmung. (so die Aussage von Milan Dubrovic).

Einer dieser Essays, aus der sich einiges über Anton Kuhs Introvertiertheit herauslesen lässt, ist das „Tagebuch eines Hotelgastes.“ Die lakonische Antwort auf eine ihm gestellte Frage: „Warum wohnen Sie im Hotel?“ beantwortete er damit: „Aus Todesangst.“ Darüber hinaus wollte er keine etablierten Wohnverhältnisse, sondern die neutrale und auf Kurzfristigkeit ausgelegte Anwesenheit in einem Hotelzimmer.

Diese Form des Wohnens schützte ihn auch vor der Vereinnahmung durch Frauen. Auch das scheint wiederum ein Einsamkeitssymptom gewesen zu sein, weil er zu keiner längeren anhaltenden Bindung fähig war. Seinem scharfen Intellekt war kaum eine Frau gewachsen. Er hielt es - wie Milan Dubrovic berichtet - mit der Überzeugung, dass ein sinnvolles und produktives Gespräch zwischen Mann und Frau nur auf der Basis eines vorher exekutierten sexuellen Erlebnisses möglich sei.

Im Kreis um Anton Kuh und seiner Schwester Nina oblag man dem Vollzug dieser sexualrevolutionären Prinzipien mit vitalem Elan. Die Einstiegsdroge dazu war der Essayband DREI AUFSÄTZE ÜBER DEN INNEREN KONFLIKT von Otto Gross.

Um nochmals Milan Dubrovic zu zitieren, meinte dieser in seinen Betrachtungen über Anton Kuh, den er einen „Seiltänzer des Wortes“ nannte, Anton Kuhs Wortschöpfungen würden aphoristische Gebilde und Tendenzen, Augenblicksgeschöpfe aus Temperament und Inspiration sein.

Sein damit verbundenes Auftreten in extrovertierter Form in der Öffentlichkeit ist gleichzeitig auch eine Form der Introvertiertheit: nach Außen hin der redegewaltige rhetorisch und dialektisch begabte Anton Kuh, der allseits geschätzt und anerkannt wurde, auch manchmal in der oft zu harten Kritik an seinen Zeitgenossen und der andere Anton Kuh, der nach Innen lebende, sich selbst der Gemeinschaft ausschließende Anton Kuh.

Die Einsamkeit in dieser Form besteht nicht in der Öffnung nach Außen, eben einer Suche nach Gemeinschaft, wie es den Anschein hat, sondern nur in der Bestätigung der Egozentrik nach Innen.

In dieser Treue zu sich selbst war Kuh auch konsequent im Denken. Zum Unterschied von Karl Kraus änderte Anton Kuh seine Meinung nie und behielt immer seinen festen, revolutionär liberalen Standpunkt bei. Dies wäre ihm neben seiner jüdischen Abstammung auch zusätzlich zum Verhängnis geworden, hätte er nicht die Möglichkeit zur Flucht gefunden und genutzt.

In der Zeit nach 1934, in der das Gleichgewicht zwischen den einzelnen politischen Gruppierungen in Österreich aufgehoben war, wurde die Bedrohung durch Hitlerdeutschland evident. Auch in der austrofaschistischen Diktatur sah Kuh eine ähnliche Bedrohung. Gerade daraus bezog er seine politische Gegenposition, die er treffend literarisch ausformulieren konnte.

Besonders irritiert zeigte er sich über die falsche Romantik des aufkeimenden Nationalismus, die sich auf neuen Wegen in das alte Heldentum, besonders in das der nördlichen Völker zubewegte.

Kuh zog rechtzeitig seine Schlüsse daraus, floh über Prag und landete schlussendlich in New York. Er fühlte die Einsamkeit, die ihn betraf, nirgendwo stärker als im New Yorker Fluchtendpunkt. Er prägte damals den Begriff des „Luftmenschen.“ Als Luftmenschen bezeichnet er jüdische Mitbürger, die, mit unterschiedlichen Talenten ausgestattet, ohne eine wirklich geografische und intellektuelle Heimat zu finden, von den Stürmen ihres Schicksals von einer Örtlichkeit zur anderen getrieben werden.

Dieses Phänomen einer latenten Wurzellosigkeit ergibt gewöhnlich eine Form von Einsamkeit, die zwar die innere Sammlung verstärkt, aber gleichzeitig das innere Verlassensein zu einer Form der Depression führt. Räumliche Abgeschiedenheit kann trösten, innere Sammlung bedeuten, aber ist dennoch eine selbstgewählte Isolation, nicht eine, die als Mangel kommunikativer Bindung an andere verstanden werden muss.

Verstärkt traf ihn auch das leidige Thema der Lebensmitte. Die Frage, ob man das bisherige Leben richtig und sinnvoll gelebt habe, steht im Vordergrund seines Denkens.

So sei es für die Lebensqualität wichtig, ob man innerlich mit seinem biologischen Alter konkurrenziere oder ob man sich psychologisch gesehen an einem anderen Punkt befände, ob man in „seiner Zeit“ sei, ob man „voraus“ oder „hinterher“ sei. Alter korreliere mit dem Faktor Optimismus negativ. Mit zunehmendem Alter sei man weniger optimistisch.

Ein anderer Faktor betrifft die Geselligkeit. Je älter man wird, um so weniger sucht man Gesellschaft. Dies führt zur Vereinsamung. Der Lebenskreis wird verengt. Man wartet, bis die anderen auf einen zugehen und wird nicht selbst aktiv. So gerät man auch im noch vorhandenen Freundeskreis in Vergessenheit.

Diese Passivität steht in engem Zusammenhang mit Resignation. Dazu kommt eine verminderte Leistungsfähigkeit, die gerade bei Schriftstellern fatal sein kann.

Als Emigrant muss man zum Aufbau einer neuen Existenz seine komplette Energie aufwenden. Ein enormer Leistungsdruck entsteht auch durch Sprachhindernisse. Selbst nach Erreichung eines möglichen finanziell und gesellschaftlichen Status bleibt die Außenseiterposition vorrangig im Bewusstsein. Jeder von den Emigranten trägt eine innere Verwundung mit sich. Darüber hinaus kommen die Gedanken hoch, was mit den anderen Familienmitgliedern, die sie zurücklassen mussten, geschehen sein könnte. Dies traf auch auf Anton Kuh zu. Es ist eben kein Durchschnittsschicksal, wenn man weiß, dass ein Großteil der eigenen Angehörigen ermordet wurde.

Eine logische Reaktion auf ein solches Schicksal ist ein übersteigertes Misstrauen gegenüber der Umwelt. Anton Kuh musste bereits einmal erleben, dass Freunde von einem Moment zum anderen zu Feinden wurden. Solche Erfahrungen traumatisieren und das In–sich-Zurückziehen ist eine Form, die zusätzlich geprägt ist durch Melancholie und Verzweiflung sowie dem entscheidenden Merkmal einer solchen Einsamkeit, erzeugt durch Verlust und in gesteigerter Form die Flucht in die Depression.

Anton Kuh hatte all das, was er zuvor als Persönlichkeit gestalten konnte, seine, um nochmals Dubrovic zu zitieren, „Sprachraketen“ steigen lassen oder scharfzüngige Kommentare, die Aufsehen erregten, in Zeitungen und Zeitschriften drucken lassen zu können, also überhaupt jegliche Form von Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit verloren.

Sein letzter Aufschrei knapp vor seinem Ableben war der Beitrag „Geschichte und Gedächtnis“, der in ergreifender Form daran appellierte, nie zu vergessen, welche Gräueltaten die Nazis an der jüdischen Mitbevölkerung begangen hatten.

Dies war für Anton Kuh um so schmerzlicher, da er sich intensiv mit der jüdischen Integration und Assimilation in seinem im Jahr 1921 verfassten Text JUDEN UND DEUTSCHE auseinander gesetzt hatte. Damals, wie zum Zeitpunkt des anderen Beitrages, musste er erkennen, dass seine Appelle nicht oder nur wenig gehört werden.

Die Einsamkeit ist eine Selbstentleerung der Seele. Wenn der Mut, die Einsamkeit zu überwinden, fehlt, so wird die Einsamkeit lebensbedrohend. Diese Form der Mutlosigkeit hat auch Anton Kuh erfüllt. Seine Frau Thea erzählte mir, dass er, der immer politisch engagiert war und politisch gedacht hat, daran zerbrach, als Hitler ganz Frankreich durch die deutsche Armee besetzen ließ. Tagelang lag er zum Teil weinend im Bett und bedauerte dermaßen das Schicksal Europas, das er schließendlich nicht verwinden konnte und an dieser Form der Einsamkeit, der äußersten Form der Depression, der Hoffnungslosigkeit, an gebrochenem Herzen starb. So hat die Einsamkeit mit allen Ausprägungen auch zum leiblichen Ende des Anton Kuh geführt.

Exil eines Mäzens - Lajos von Hatvany im Wien der zwanziger Jahre (Univ.-Doz. Dr. phil. Alfred Strasser, Lille)

Zweifellos ist der ungarische „Zuckerbaron“ Lajos Hatvany, von dem Thomas Mann behauptete, er sei einer dieser steinreichen Menschen, deren großzügige Gastfreundschaft alle deutschen und westeuropäischen Begriffe übertreffe, einer der großen Mäzene der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Der Sohn einer der reichsten Familien Ungarns förderte vor allem literarische Projekte; so schuf er die wirtschaftliche Grundlage für die Zeitschrift „Nyugat“, unterstützte finanziell ungarische, österreichische und deutsche Schriftsteller und trat selbst als Autor von Essays und Romanen an die Öffentlichkeit. Nach der Machtübernahme durch Miklós Horthy, musste Hatvany seine ungarische Heimat verlassen und wählte, wie viele andere seiner Landsleute, Wien als Aufenthaltsort. Im Café Stöckl versammelte er eine Reihe ungarischer Intellektueller um sich, wie etwa den Schriftsteller Béla Bálazs, hatte Kontakte zu den Künstlern um die Zeitschrift „Ma“ sowie zum Philosophen Georg Lukács.

Nach seiner Rückkehr nach Ungarn im Jahre 1927 wurde er verhaftet und zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die aber dank der Intervention des österreichischen PEN-Clubs aufgehoben wurde.

Auch nach seiner Befreiung trat Hatvany weiterhin bis zu seinem Lebensende als Mäzen von Schriftstellern in Erscheinung.


Paneel II: Otto Gross und die Frauen

Else Jaffé-Richthofen zwischen Edgar Jaffé, Otto Gross und den Brüdern Alfred und Max Weber (Prof. Dr. phil. Dr. ès lettres Eberhard Demm, Lyon u. Koszalin)

Das Mädchen ohne Mitgift: Else von Richthofen (1874-1973) stammt aus einer verarmten Offiziersfamilie und verfügt über keinerlei Mitgift, was ihre Heiratschancen stark beeinträchtigt. Sie lässt sich als Lehrerin ausbilden und studiert später mit Sondererlaubnis Nationalökonomie. 1900 promoviert sie bei Max Weber in Heidelberg und arbeitet bis 1902 als Fabrikinspektorin in Mannheim.

Die Heirat: Da der Beruf sie zu sehr anstrengt, heiratet sie 1902 Edgar Jaffé, einen jüdischen Millionär - der klassische Ausweg ruinierter Adliger. (Else:„dankbares geborgenes Gefühl“)

Die erste Affäre: Ab 1904 mit dem Chirurgen Friedrich Voelcker. (Else: „ich wache auf“)

Im „Harem“ von Otto Gross: 1907 wird sie für kurze Zeit dessen Maitresse und bekommt von ihm ein Kind. Sie begrüßt seine Lehre der Promiskuität ohne Eifersucht und setzt ihr Verhältnis mit Voelcker fort. (Else:„Else, warum denn nicht?“) Als Gross dies missbilligt, ist die „Schülerin“ Else von ihrem Lehrer enttäuscht und lässt ihn fallen.

Die Möchtegern-Liebhaber: Um Elses Gunst bewerben sich in Heidelberg weitere schöne Männer: Friedrich Gundolf, Arthur Salz und, last not least, Max Weber. Dieser, schwer neurotisch und in seiner Ehe mit Marianne völlig impotent, wirbt 1909 zu zaghaft um sie (cf. die überinterpretierte Gondelszene in Venedig) und erreicht daher nichts. Motto: Ach, ich hab’ sie ja nur auf die Schulter geküsst (wenn überhaupt).

Die große Liebe: 1908 taucht wie ein „Deus ex machina“ Max Webers Bruder Alfred in Heidelberg auf und schnappt im Dezember 1909 Else allen Konkurrenten weg. Damit kompliziert sich die Situation erheblich. Alfred ist kein beliebiger Seitensprung, sondern Elses große Liebe. Edgar Jaffé, der bisher Elses „Explosionen des Fleisches“(Max W.) großmütig tolerierte und sogar versuchte, sie mit Otto Gross zu versöhnen, ist verzweifelt und will beide durch Scheidungsdrohungen trennen. Motto: Körper hätt’ ich noch verziehen, aber Seele – geht zu weit! Max Weber, frustriert, unterstützt ihn, und als Else ablehnt, bricht er jede Beziehung mit der „dummen Kröte“(Max W.) ab. Edgar akzeptiert schließlich folgendes:

Ménage à trois : Else bleibt verheiratet und wird von Edgar und Alfred finanziell versorgt. Sie lebt mit ihren 4 Kindern in Wolfratshausen südlich von München, Alfred und Edgar leben in Heidelberg bzw. München, richten sich aber Liebesnester in der Nähe von Wolfratshausen ein, wo sie Else empfangen, auch abwechselnd mit ihr verreisen. Dabei kommt es manchmal zu vaudevillereifen Szenen. (Elses Kinder: „Mutter, gehst Du heut schon wieder fort?“) Eine jugendfreie Darstellung gibt David H. Lawrence im Roman „Mr. Noon“, Kap. 13.

Neuer Ménage à trois : Ende 1916 bemüht sich Else wieder um Max, was Alfred tolerieren muss. Max hat durch sein Verhältnis mit der Pianistin Mina Tobler seine Impotenz überwunden, und ab 1916 bis zu seinem Tod 1920 wird er Elses große Liebe. Alfred, in der Berliner Politik engagiert, tritt etwas in den Hintergrund, Edgar Jaffé, in Münchner Sozialistenkreisen aktiv und 1918/19 Finanzminister der Revolutionsregierung Eisner, scheidet wohl ganz aus. Infolge schwerer Depressionen kommt der vorzeitig gealterte Mann 1919 in eine Heilanstalt. Nach dem Tode Max Webers ist Else völlig verstört. Alfred Weber erkennt, dass sie Max mehr liebte als ihn und gerät in eine schwere psychische Krise.

Wilhelm Maier, Elses letzte Leidenschaft? 1921 stirbt Edgar Jaffé an einer Lungenentzündung, Alfred Weber schwebt nach einer schwierigen Nierenoperation zwischen Leben und Tod. Else, anderweitig engagiert, kümmert sich weder um den einen noch um den andern. Über Wilhelm Maier ließ sich nichts erfahren.

Als Alfred Webers Lebensgefährtin: Erst 1925 übersiedelt Else nach Heidelberg, wohnt aber zunächst getrennt von Alfred und sehr viel standesgemäßer. 1931 ziehen beide in zwei nebeneinander liegende Wohnungen. Nach anfänglichen Problemen (Nervenzusammenbruch Elses) pendelt sich die Beziehung ein und endet erst mit Alfreds Tod 1958. (Frieda Lawrence 1954: „But you still have Alfred who needs you like the air he breathes.“)

Thesen

Else Jaffé-von Richthofen ist keine Exponentin der erotischen Bewegung der Jahrhundertwende wie die Gräfin Franziska zu Reventlow, auch keine Jüngerin von Otto Gross, sondern die traditionelle bürgerliche Ehefrau jener Zeit, die sich erst nach der Heirat ausleben kann und dann mit höchster Diskretion einen oder mehrere „Hausfreunde“ unterhält. Das Thema ist ein Dauerbrenner in zeitgenössischen Komödien und Romanen (Georges Feydeau, Leo Tolstoi), aber auch in einschlägigen Berichten aus der bürgerlichen Gesellschaft.

Otto Gross predigt zwar die Promiskuität ohne Eifersucht und erwartet von Ehefrau und Maitressen, dass sie einander tolerieren, er selbst aber reagiert gegen deren Liebhaber (Friedrich Voelcker, Ernst Frick, Erich Mühsam) wie ein Guru, der seinen Harem gegen unerwünschte Eindringlinge abzuschotten versucht. Else Jaffé-Richthofen  reagiert in gleicher Weise: sie erwartet von Gross die Tolerierung Voelckers, ist aber eifersüchtig auf ihre Schwester Frieda Weekley (geb. von Richthofen) und verlangt von Gross, seine Beziehung zu Regina Ullmann aufzugeben. Nur seine Frau Frieda (geb. Schloffer) akzeptiert sie voll und ganz, was sich wohl durch langjährige lesbische Beziehungen zwischen beiden Frauen während ihrer gemeinsamen Pensionatszeit erklärt.

Selbstmorde im Umkreis von Otto Gross gehören zum typischen Ambiente eines Gurus, wofür sich heutige, aber auch zeitgenössische Parallelen nachweisen lassen, insbesondere der Kreis von Stefan George.

Zahlreiche Männer im Umkreis von Else, aber auch darüber hinaus im Heidelberger Ambiente, suchen in der Geliebten eine „Domina“, zumindest einen Mutterersatz. Dazu gehören Alfred und Max Weber (letzterer nachweisbar masochistisch), Otto Gross, Emil Lask, Philipp Witkop, Jacob Eberz.

Otto Gross kommt vor allem deshalb nicht vom Kokain los, weil diese Droge seine sexuelle und geistige Aktivität stimuliert.  Erst die Droge macht aus dem verklemmten frauenscheuen Jüngling einen unwiderstehlichen Frauenheld und produktiven Denker. (Bei verstärkter Abstinenz „kommen Zustände, in denen man nur steife magere Sätze herauspressen kann“, O. Gross 1907)

"Die Lichtgestalt, die ich mein Leben lang gesucht habe": Marianne "Mizzi" Kuh. Fragmente einer Biographie (Dr. phil. Gottfried Heuer, London)

Der Beitrag präsentiert zum ersten Mal in der Geschichte der Gross-Forschung bislang bekannte und unbekannte Dokumente und Forschungsergebnisse zur Lebensgeschichte von Marianne "Mizzi" Kuh, der - von Gross sogenannten - "Verlobten" Otto Gross' und Mutter der gemeinsamen Tochter Sophie Templer-Kuh.

Endstation Ascona. Warum starb Sophie Benz? (Hermann Müller, Freudenstein)

Fünf Fragen: Wer war Sophie Benz? Warum verbindet sich Otto Gross mit ihr? Wo blieb ihr (ungeborenes) Kind? Warum ziehen beide am Ende nach Ascona? Woran starb Sopie Benz?

 Das Leben der Sophie Benz – in Verbindung mit Otto Gross – beginnt 1906 in Ascona und endet 1911 in Ascona. 1906 starb dort Lotte Hattemer an dem von Gross bereitgestellten Gift, 1911 stirbt dort Sophie Benz unter sehr ähnlichen Umständen. Warum Ascona? Warum gehen Gross und Benz, ein Ende mit Schrecken ahnend oder suchend, nach Ascona? Zwei Deutungen sind möglich. Die erste kann als wahrscheinlich gelten, die zweite ist denkbar.

Sophie Benz, ein Mädchen vom Lande, katholisch, lehnt sich auf gegen ihre Herkunft. Sie sucht die Gegenwelt in der Künstler-Bohème von Schwabing, dann im „Schwabing von Schwabing“: Ascona. Wie für Gross wird ihr der Monte Verità eine Erfüllung ihrer Wünsche und Ahnungen. Warum verbindet sich Gross mit diesem geistig unbedeutenden Mädchen? Diese Liaison ist ein Symptom seines Abstiegs. Die hochgebildeten Frauen aus dem Professorenmilieu hatten sich von ihm zurückgezogen, die Illusion einer eifersuchtfreien Polygamie war geplatzt, die Hochschule zur Befreiung der Menschheit nicht zustande gekommen. Gross war nicht nur aus der akademischen Karriere ausgestiegen, er war auch von den für ihn in Frage kommenden Autoritäten – Freud, Weber, Landauer, Jung – verworfen worden. Er war wieder seiner Sucht verfallen und zog Sophie in seine Sucht hinein. In dem schwachen Mädchen suchte er menschlichen Halt. Die gegenseitige symbiotische Abhängigkeit musste sie beide in die Tiefe reißen.

Als Wendepunkt des Schicksals von Sophie Benz ist ihre (unausgetragene) Schwangerschaft zu sehen. Ob nun Abtreibung oder Totgeburt – sicher ist, dass Gross, weil unfähig eine Familie zu ernähren, weil abhängig von den Zuwendungen seines Vaters, dieses Kind nicht wollen konnte. Mit dem Sollerprozess war die Hoffnung auf eine anarchistische Revolution gescheitert, mit dem Verlust ihres Kindes war für Sophie der letzte Halt verloren. Exemplarisch und symbolisch hatte sich am nicht leben sollenden Kind gezeigt, dass Kinder in Grossens Theorie keinen Platz hatten. Otto Gross – und mit ihm Sophie Benz – war am Ende.

Darum der Gang nach Ascona. Vielleicht um an die alten Hoffnungen wieder anzuknüpfen. Aber auch eine andre, sinistre, kriminalistische Deutung ist möglich. Sie soll hier nicht vorweggenommen werden.

Regina Ullmann: Und nach und nach versiegte die Mondnacht in mir (Kristina Kargl)

Als die 17-jährige Regina Ullmann 1902 mit ihrer verwitweten Mutter von St. Gallen nach München zieht, ist Schwabing schon als Zentrum der Bohème bekannt. Trotz seiner Schüchternheit und eigenartigen Langsamkeit macht das junge Mädchen durch seine literarische Begabung und verblüffende Vortragskunst schnell Bekanntschaft mit der vielfältigen Schwabinger Szene.

Sie findet zunächst Kontakt zu einem Kreis, in dem in literarischer Form um die Rechte der Frauen gekämpft wird. Ihre Freundin Erika Dorn, geb. Rheinsch, hilft ihr, ihre ersten Gedichte im St. Galler Tagblatt unterzubringen. Mit Erikas Dorns Ehemann, dem Mitherausgeber der Zeitschrift „Frauen-Zukunft“, der auch als Redner bei der Generalversammlung des „Verbands fortschrittlicher Frauenvereine“ in Berlin auftritt und später Professor an der TU München werden wird, Dr. Hanns Dorn, hat Regina Ullmann ihr erstes Kind Gerda, das 1906 in Wien geboren wird.

Der Kreis um Otto Gross, den Regina Ullmann nach der Rückkehr nach München 1907 vermutlich im Café Stefanie kennenlernt, hat sich den Kampf gegen das Patriarchat auf die Fahnen geschrieben und fordert die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. Mit seinem charismatischen Wesen, seiner Wortgewandtheit und seinen revolutionären Ideen zieht Gross nicht nur die Richthofen-Schwestern, Frieda Weekley und Else Jaffé, sondern auch Regina Ullmann in seinen Bann. Im Oktober 1907 wird sie von ihm schwanger und bringt im Juli 1908 ihre Tochter Camilla zur Welt. In dieser Zeit entstehen einige Erzählungen, bei denen man vermuten kann, dass Regina Ullmann hier versucht, das Erlebte zu verarbeiten, wie z.B. in der Erzählung „Von einem Affen und einer Kokosnuss“, die 1908 veröffentlicht wird.

Die für die sensible Frau dramatischen Ereignisse der vergangenen Jahre sind sicher ein Grund für Regina Ullmanns Hinwendung zum katholischen Glauben, zu dem sie mehr oder weniger durch den christlich-militanten „Propheten“ Ludwig Derleth geführt wird. Nach ihrer Taufe löst sie sich allerdings aus dessen Umklammerung und findet in Rainer Maria Rilke bis zu seinem Tod einen guten Freund und Mentor, dessen gleichgesinnte Freunde und Mäzene sie ebenfalls ihr Leben lang begleiten und unterstützen werden.

In ihrer Kreativphase im Roséeschlösschen bei Dachau entsteht 1920 die Erzählung „Die Konsultation“. Der Brief, der in dieser Erzählung eingangs „unwiderruflich“ entscheidet, könnte den Tod von Otto Gross gemeldet haben. Nicht nur die anfänglich „dumpfe Resignation“ wird hier geschildert, sondern auch ein emotionaler Ablösungsprozess. Auch in anderen Geschichten, die zu dieser Zeit entstehen und sich in dem Sammelband  „Die Landstraße“ finden, thematisiert Regina Ullmann das langsame Versiegen der „Mondnacht“. Nie wird sie über Otto Gross sprechen, auch nicht mit ihrer Tochter Camilla. Sie führt weiterhin ein nonnenähnliches Leben, von einem anderen Mann in ihrem Leben ist nichts bekannt.

“… alles wirft sie in das Opfer hinein …” – Milena Jesenská und Ernst Polak (Shinji Hayashizaki)

Der Vortrag beschäftigt sich mit der tschechischen Journalistin Milena Jesenská, die als Freundin und Übersetzerin Franz Kafka’s berühmt wurde, ihrem Ehemann, dem jüdischen Bankbeamten Ernst Polak, Stammgast in der Prager und Wiener Caféhaus-Szene und ,,Literat ohne Werk”, und Otto Gross.

Die Ideen von Gross, die nach dem Ersten Weltkrieg im Wiener Café Herrenhof in Mode waren, beeinflussten das Zusammenleben der Polaks, wobei nicht nur die persönlichen Umstände der Beziehung, sondern auch der sozialgeschichtliche Hintergrund eine Rolle spielt, vor allem die politische, kulturelle und ethnographische Konstellation in Prag von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weitkriegs.

Die Beziehung von Polak und Milena nahm ihren Anfang in einer Zeit zunehmender nationaler Konflikte. 1918 wurden sie zur Ehe ermutigt, wobei Millena sich dabei aktiv ihrem tschechisch-nationalistisch gesinnten Vater widersetzte und Polak versuchte, aus anderen Gründen aus Prag zu fliehen.

In demselben Jahr, bei Kriegsende und gleichzeitigem Zerfall Österreich-Ungarns, übersiedelte das Paar nach Wien, geriet in wirtschaftlich katastrophale Verhältnisse, die zugleich aber auch Möglichkeiten eines neuen Anfangs boten. Die ersten Wiener Jahre waren allerdings von der Krise der Ehe gekennzeichnet, die auch vor dem Hintergrund des Einflusses der Gross’schen Ideen zu sehen ist.

Wenn man aber etwa Milenas charakteristischen Essay über die Ehe (1923) oder Polaks gescheite Besprechung von D. H. Lawrences Lady Chatterley (1930) in Relation zu den Lebenserfahrungen der Polaks sieht, entsteht der Eindruck, dass Milena und Ernst Polak andere - zuweilen konservativ oder gar zynisch anmutende - Antworten auf zeitgenössische Probleme fanden, als sie Gross anbot.


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Letzte Aktualisierung: 17. März 2007, 22:21 Uhr