Archiv für Kriminologie: pre-publication review of Freud’s ‘Outstanding’ Colleague / Jung’s ‘Twin Brother’ (in German)

Priv.-Doz. DDr. Christian Bachhiesl reviews Freud’s ‘Outstanding’ Colleague/Jung’s ‘Twin Brother’ in the March/April 2017 edition of the Archiv für Kriminologie (Archives of Criminology).

Heuer, Gottfried M.: Freud’s ‘Outstanding’ Colleague / Jung’s ‘Twin Brother’. The Suppressed Psychoanalytic and Political Significance of Otto Gross — London, New York (Routledge) 2017 – 252 S. br.

Die unglückliche Beziehung zwischen dem Begründer des „Archivs für Kriminologie“, dem Kriminologen Hans Gross (1847-1915), und seinem Sohn, dem Psychiater und Psychoanalytiker Otto Gross (1877-1920), wurde, ausgehend von der Internationalen Otto­-Gross-Gesellschaft, dem Hans-Gross-Kriminalmuseum der Universität Graz sowie anderen Institutionen und Personen, in jüngerer Zeit eifrig erforscht und auch in dieser Zeitschrift des Öfteren dokumentiert. Gottfried M. Heuer, in London wirkender Psychotherapeut und Mitbegründer der Internationalen Otto-Gross-Gesellschaft, hat mit dem nun vorliegenden Buch das Ergebnis seiner langjährigen Beschäftigung mit Otto Gross und seiner Wirkung auf die Psychoanalyse, ja auf die Kulturgeschichte generell, vorgelegt. Im Zentrum des Buches steht einerseits der Einfluss von Otto Gross’s Thesen und Theorien auf die weitere Entwicklung der Psychoanalyse – so mancher Tiefenpsychologe habe sich, so Heuer, mit Gross’schen Federn geschmückt-, andererseits die für Otto Gross charakteristische Verknüpfung von Psychoanalyse und revolutionär ausgerichteter Politik. Politik ist hier freilich in einem weiten Sinn zu verstehen: Der Terminus inkludiert politische, aber auch persönliche Identitätskonzepte, ethische und gleichsam sakrale Dimensionen. Dabei geht Heuer nicht mit dem etablierten methodischen Instrumentarium der Biographie, der historischen Hermeneutik und der historischen Epistemologie an seine Aufgabe heran, sondern mit einer eigens entwickelten, intersubjektiven psychoanalytischen Methode, die er „trans-historical research” nennt. Es geht Heuer nicht um die Erzählung dessen, was war, sondern um die Heilung historischer Wunden: „Healing wounded history“, so lautet die Devise (S. 5-26). Dass dieses Buch ein höchstpersönliches Anliegen ist und nicht ein um objektive Distanz bemühtes, geschichtswissenschaftliches Werk, wird klar dargelegt (Kap. 2, „Author and subject“, S. 27-42); es kann als Sakralisierung der Theorien des Otto Gross, seines Lebens, aber auch des Lebens von Gottfried Heuer gelesen werden.

So ungewöhnlich der Ansatz des Autors ist, so anregend und instruktiv ist er in man­cherlei Hinsicht: Man bekommt nicht nur die spannende und dramatische Lebensgeschichte des Otto Gross vermittelt, sondern auch Einsichten in kultur-, sozial- und wissenschafts­geschichtliche Hintergründe und ideengeschichtliche Kontexte, die manchmal ein wenig frei assoziiert erscheinen, aber eine besondere darstellerische Plastizität erhalten. Dies vor allem dadurch, dass der gewählte „trans-historische“ Zugang den Leser gewissermaßen in die Innenperspektive des Otto Gross (und seines Erforschers und, man darf es wohl so sagen, Schülers Gottfried Maria Heuer) hineinzieht. Was so an Distanz und damit auch Verständnis für andere zeitgenössische Akteure, Ottos Vater Hans Gross etwa, verloren geht, wird durch ein konsequentes Bemühen um Verständnis des Hauptprotagonisten ersetzt. Der Rezensent will da seine methodologischen und epistemologischen Bedenken nicht unerwähnt lassen, weist aber darauf hin, dass dieses Buch ein legitimes und vielleicht auch notwendiges Gegenprojekt zum Otto-Gross-Bild darstellt, wie es etwa Franz Werfel in seinem 1929 erschienenen Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“ in der Figur des Dr. Gebhart zeichnete. Wer nicht im objektiven Erkenntnisgewinn, sondern in der subjektiven Lebensbedeutsamkeit den Sinn von gelehrter Beschäftigung mit einem historischen Thema oder Menschen sieht, ist nicht bedingungslos an methodologische Schwerkräfte gebunden (freilich auch nicht gänzlich davon befreit).

Zurück zum kurzen und tragischen Leben des Otto Gross und zu seiner Inkompatibilität mit der Welt, in der er lebte: Heuer sieht die Wurzeln seines persönlichen Schicksals und seiner anarchistischen psychoanalytischen und politischen Konzepte in der „attitude of his parents“ (S. 202) und den daraus resultierenden traumatischen Deprivationen seiner Kindheit begründet. Ob dies den Tatsachen entspricht, bleibe dahingestellt – wie gesagt, Heuer versucht, sich konsequent in die Perspektive des Otto Gross zu versetzen. Sehr gut herausgearbeitet wird in diesem Buch jedoch der Prozess der Transformation einer soziale Einbettungen reflektierenden Psychoanalyse in ein revolutionäres, anarchisti­sches politisches Projekt, das schließlich einen quasireligiös-sakralen Charakter annahm. Wir wollen es dahingestellt sein lassen, ob es Heuer gelungen ist, die verwundete, wunde Geschichte zu heilen. Sehr wohl gelungen ist ihm das Portrait eines außergewöhnlichen, schwierigen Menschen, dessen Lehren nicht nur in der Psychoanalyse bis heute eine gewisse Wirksamkeit entfalten und dessen tragisches Schicksal paradigmatisch für das vielleicht notwendigerweise aussichtslose Bestreben, den Zwängen dieser Welt gänzlich zu entkom­men, stehen mag. Hans Gross hat wohl all seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte in seinen Sohn, sein einziges Kind, hineinprojiziert. Otto Gross hat sein Möglichstes getan, diese Projektionsfläche zu zerstören – und hat mit dem Versuch, die Freiheit so weit wie irgend möglich voranzutreiben, letztlich auch sich selbst zerstört. Gottfried M. Heuers Buch ist auch eine Parabel für die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens. Der Autor ist – auf Englisch – im Gespräch über sein Buch mit Jonathan Chadwick unter: https://vimeo.com/196609212 . » view on this site

Priv.-Doz. DDr. Christian Bachhiesl

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