|
Protest und Moral im Unbewußten
von Otto Gross *
"Wenn Einer Kain erschlüge," sagt die Schrift,
"das sollte siebenmal gerochen werden." Es gibt für
dieses Wort nur eine Deutung: sieben Menschen wert ist Kain.
Durch seine Tat: wenngleich sie mit besonderer Betonung des Sinnlos-Primitiven
ihrer dem Täter selber kaum als Grund erscheinenden Bewußtseinsmotivierung
als nur zerstörend unterstrichen wird. Denn diese
Tat ist die Geburt des revolutionären Protestes*.
Nicht wie nach griechischer Tradition das ewige Hoffen, sondern
die ewige Unzufriedenheit war als das einzige Gut
in die entwertete Welt gekommen. Und hinter der scheinbar sinnlosen
bösen Tat, die aus dem Dunkel des Unbewußten in rätselhafter
Unvermitteltheit emporquillt, zeigt sich als tiefste Wirklichkeit
das Ewigkeitsmoment des unverlierbar, unaufgebbar Guten.
Die Psychologie des Unbewußten erschließt uns
jetzt das Gebiet der verborgenen Werte, die in der Anlage präformiert
und durch den seelischen Druck der Erziehung und überhaupt
aller Autoritätssuggestionen aus dem Bewußtseinsbereiche
der Seele verdrängt, nunmehr methodisch wieder bewußt
gemacht werden und jetzt den geltenden Normen und ihrem Effekt
gegenüber das ursprungsnähere Bild des Menschen
mit seinen wirklichen Möglichkeiten, mit seinen angeborenen
Eigenwerten und seinem primären Bestimmtsein durch seine
Anlagen selbst wieder herzustellen gestatten. Die
Unbewußtseinspsychologie gibt uns damit das erste Substrat
für eine Problemstellung über den Wert der Werte
das Ausgangsproblem des revolutionären Denkens. Die Revolutionsforderung
als Resultante der Psychologie des Unbewußten wird absolut,
sobald sich erweist, daß die Verdrängung der Anlagewerte
das Opfer der höchsten menschlichen Möglichkeit ist.
Deswegen ist die psychoanalytische Schule, deswegen ist der
große Entdecker S. Freud gerade vor diesem
Evidentwerden stehen geblieben. Niemand vermag
aus eigener Kraft, allein auf weit vorausgebahnten Wegen des
Erkennens, durch Sperrungen zu dringen, die Wert und Geltung
eines, der eigenen Persönlichkeitsgewohnheit verwachsenen
Prinzips umfrieden. Dem Erkennen der klassichen Psychoanalyse
ist seine Grenze gezogen gerade vor den Entdeckungen, durch welche
alle traditionelle Autorität in Frage gestellt und die Existenzbasis
derer erschüttert [681/682] wird, die in der
Autorität der bestehenden Ordnung sich bodenständig
und sicher fühlen. So endet ihr großes Erschließungswerk
mit der Freilegung der die tiefstverdrängten seelischen
Elemente, die angeborenen Eigenwerte, im Unbewußten überlagernden
Schicht, als deren Gehalt sich eine chaotische Allperversität
der Triebe und der Gefühle empirisch nachweisen
läßt. Diese Häßlichkeit der Motive
des Unbewußten schien dem bestehenden Autoritätsprinzip,
der Unterdrückung des Individuellen und den geltenden Normen
Recht zu geben, und damit durfte sich die psychotherapeutische
Forderung der klassischen Psychoanalyse darauf beschränken,
die Negativität der aufgedeckten Impulse bewußt zu
überschauen und sie den führenden Normen des Unbewußtseins
gernäß zu korrigieren und niederzuhalten . . .
Wir aber behaupten, daß eine konsequente
und schrankenlose Psychologie des Unbewußten als tiefst
heraufgehobenes Ergebnis Entgegengesetztes enthüllt:
uns sind die fürchterlichen Verzerrungen und Erniedrigungen
des Impuls- und Gefühlslebens, die hinter den Bewußtseingrenzen
angestaut auf alles seelische Geschehen sabotierend wirken, die
selbstverständlichen Verirrungen und Verzweiflungskrämpfe
bereits der gebrochenen, durch Zwang und Lockung von außen
her such selber entfremdeten Psyche, für deren Zustand schon
die Verdrängung der eigenen orientierenden Kräfte,
der angeborenen Eigenwertung Voraussetzung ist. Für uns
liegt hinter jeder inneren Zerrissenheit die Unvereinbarkeit
von angeboren eigenen und suggerierten fremden Motiven; es ist
uns selbstverständlich, daß alle Anlagen notwendig
einheitlich sind; es erscheint uns absurd, die selbstverständliche
Zweckmäßigkeit des Angeborenen und Angelegten nicht
schon an sich als Harmonie und präformiert-harmonisches
Zusammenfunktionieren zu erkennen. Wir nehmen die angeborenen
Impulse als zweckmäßig an, nicht nur im Sinne individueller,
sondern vor allem auch sozialer Zweckmäßigkeit.
Die souveräne angelegt-soziale und angeboren-ethische Präformation,
welche wir jetzt durch die Methodik der Psychologie des Unbewußten
aus der Verdrängung freizumachen imstande sind, ist uns
bereits durch die Entdeckungen P. Krapotkins bekannt: der angeborene
"Instinkt der gegenseitigen Hilfe", auf
dessen Nachwis auf vergleichendem biologischem Wege P. Krapotkin
die erste Basis für eine wirkliche Ethik als
einer zugleich genetisch-begründenden und normativen Disziplin
zu errichten begonnen hat.
Die Möglichkeit, bis zu den Wertelementen der Anlage
selbst, den tiefst verdrängten Motiven von allen, ins Unbewußte
hinabzudringen, erreichen wir jetzt durch eine technische Auswertung
unserer neuen Voraussetzungsbasis vom Dasein verdrängter
ethischer Anlagen zu einem speziellen Prinzip der psychoanalytischen
Arbeit. Es [682/683] hat sich die bisher so rätselhafte
Erscheinung der Unzerstörbarkeit oder besser gesagt:
der Unaufgebbarkeit der neurotischen Elementarsymptome zurückführen
lassen auf das Verankertsein jedes wie immer furchtbaren, häßlichen
oder grotesken Einzelsymptomes an einem tiefsten Ursprungsmotiv,
das immer zum unaufgebbar Guten gehört und dessen Loslassen
deshalb unmöglich bleibt. Erst mit dem Auslösen dieses
Motivs aus seinen fixierten Assoziationen und mit der Ermöglichung
seiner Eigenfunktion im freien Bewußtseinsgebrauch verschwindet
das vorher fixierte Einzelsymptom, durch welches sich bishin
jenes Motiv, verkrampft, verbildet und paradox, zu Leben und
Ausdruck durchgedrängt hatte. So läßt
sich die masochistische Einstellungsart von zahlreichen Frauen
durch das Bewußtmachen einer zugrundeliegenden Mutterschaftssehnsucht
beenden, negativistisch-verkrampfte Selbstisolierung durch Freimachen
einer bestimmten, moralisch geforderten Abwehr durchbrechen und
anderes mehr. So lösen sich ungezählte Fälle von
krankhafter Sabotage an sich und anderen mit der Befreiung
eines Impulses zum revolutionären Protest, der situationsgemäß-sittlichen
Projektion zugleich des Instinktes zum Schutz der eigenen seelischen
Art und des Instinktes zur gegenseitigen Hilfe.
Wir sind also durch die Methodik der Psychologie des Unbewußten
instand gesetzt, eine praktisch unermeßliche Fülle
von positivster seelischer Kraft zu befreien eine Möglichkeit,
welche noch nie einer Zeit geboten gewesen. Wir dürfen deshalb
mit einer neuen, besonderen Hoffnung und Pflicht uns für
die Krise bereiten, durch die wir hindurchzugehen haben und welche
im Augenblick gleicher Entwicklungsreifung bisher noch jeder
Kultur die Katastrophe gebracht hat.
In einer bestimmten Entwicklungsphase wird jede Kultur
zur Alternative von Untergang oder Metamorphose determiniert:
mit der vollendeten Beifung der Stadtkultur. Die Souveränität
der Stadt im Kulturellen und was dafür Voraussetzung ist:
zivilisatorischen Leben ist die vollzogene Ueberwindung der langen
Periode, in der die Scholle dem Menschen die Elementareinheiten
der Arbeitsgruppierung und in dieser die Grundform persönlichen
Miteinanderlebens bestimmt: die Wirtschaftsvereinigung
Mann-Weib-Kinder zur Ausführung der vom Boden gestellten
Teilaufgaben, d. i. die Vaterrechtsehe als typisch der
Landwirtschaft angepaßte Primärgruppierung.
Der Uebergang zum städtischen Leben beendet die Bindung
der Existenz und die Anpassung aller bestimmenden Dinge an Boden
und Ackerbau. Mit dieser Erlösung von der Scholle
beginnt [ 683/684] ein neues Erwachen der expansiven
Vitalität wie ehemals, vor der Schollenbindung.
Durch diese Erneuerung drängenden inneren Lebens wird
eine ungeheure Fülle von schöpferischen Kräften
mobil und macht diese Zeiten der nahenden Entscheidung zugleich
zu den typischen Hochperioden chaotisch quellenden Neugestaltens.
Auf diesem Entwicklungesniveau vollzieht sich ausnahmslos
in jeder Kultur die Katastrophe der sexuellen Moral.
Der unaufhaltbare Zersetzungsprozeß auf dem Gebiete der
Moral enthüllt das völlige Ueberlebtsein der Institution.
In der Periode der dominierenden Landwirtschaft eben noch haltbar
als bäuerlich-ökonomische Einrichtungsform, wird sie
vom Augenblick der vollzogenen Ablösung von der Scholle
an dem Menschen der neuen Periode wieder so fremd wie sie dem
Menschen der Urzeit gewesen war.
Die Vaterrechtsfamilie verliert, vom Boden gelöst, den
ökonomischen Wert einer relativen Angepaßtheit
das einzige, was bis dahin noch die Unertragbarkeit der Zwangsbeziehung
zurückgedrängt hatte und wird jetzt für
den einzelnen auch wirtschaftlich gewöhnlich eine niederdrückende
Last; sie behält allein noch die Qualität einer staatlichen
Evidenthaltung der Zahlungspflichtigkeit für jedes einzelne
Kind. Der menschliche Protest des Individuums gegen den
sinnlos gewordenen, den einzelnen nur mehr beschränkenden
und verbildenden Druck läßt sich nicht anders mehr
als unter steigender Konfliktbelastung verdrängen. Und immer
größer wird die Dissonanz einer neuen Innerlichkeit
mit der stützenlos werdenden Tradition. Die charakteristischen
Ueberkompensationsbestrebungen, welche in solchen Zeiten als
"Moralismus" zur Geltung kommen, sind
selbstverständlich ausnahmslos verlorene Versuche, den alten
Normen ohne jede Aussicht ihre unzulänglich gewordenen Motive
zu ersetzen oder zu ergänzen, durch eine unvermeidliche
inhaltleere Propagana die alte Macht zurückzubringen. Die
große Belästigung des Privatlebens aber und unter
Umständen auch noch ernstere Uebergriffe, zu denen der Moralismus
immer tendiert, erhöhen Wachstum und Bedeutung der antagonistisch
orientierten, für das Kulturgetriebe solcher Phasen noch
ungleich mehr bedeutungsvollen und charaktergebenden Erscheinung:
des prinzipiellen Immoralismus. Der Immoralismus
ist der Ausdruck der tiefinnerlichen latenten Ratlosigkeit solcher
kritischen Zeiten, als Niederschlag einewr Verwechslung der bestehenden,
an sich selbst und von vornherein schon höchst relativen
und nunmehr voll überlebten Moral mit Begriff und Möglichkeit
ethischer Werte und Normen als solchen. Dem Immoralismus wie
dem Moralismus liegt eine Verkennung der Zeichen der Zeit zugrunde.
Denn "Sittenverfall" ist Notwendigkeit einer
neuen Norm an Stelle der alten. [684/685]
So ist die Phase beschaffen, durch die wir hindurchzugehen
haben dieselbe, in der die Krise und Katastrophe noch über
jede Kultur gekommen ist. Es ist noch niemals bisher der schicksalsentscheidenden
Forderung des Momentes Genüge geschehen: der Forderung,
produktiv ein vollständing Neues zu schaffen und zu realisieren,
eine neue Institution und neue, diesmal der menschlichen Seele
verwandtere Werte, zur neuen Lösung des immer bleibenden
großen Problems: des Problems der wirtschaftlichen Instandsetzung
der Frau zum Uebernehmen der Mutterschaftsleistung. Nur
dieses allein ist der wahre soziale und ethische Inhalt der Frage
der ersten und größten Gesellschaftsfrage. Wird
sie in dieser Entscheidungszeit nunmehr bewußt und verstehend
gestellt, so ist das Postulat der Beantwortung selbst gegeben:
die Leistung der ökonomischen Mutterschaftsdeckung
durch prinzipielle Aufbringungspflicht der Gesellschaft.
Damit erfüllt sich das Gesetz, daß alle großen
Neugestaltungen ein Wiederaufnehmen ihrer Ausgangsformen auf
einer höheren Ebene und Ordnung sind. Die Lösung von
der Scholle führt die Erlebens- und Anspruchsformen, das
innere Erfassen der Welt, der Mitmenschen und des eigenen Ich,
die Forderung an die Gesellschaft und ihre treibenden Kräfte,
an Institutionen und Werte, zur Urzeitfreiheit, nur auf dem erhöhten
Niveau des Differenziertseins durch endlos getragenes Leid und
der verzehnfachten Kraft des revolutionären Protestes zurück.
So stellt die Zeit selbst die unmeßbaren inneren Kräfte
bereit, die als Geist und Zerstörung, Sehnsucht und Wut
chaotisch nach vorwärts, zur Wandlung oder zum Untergang
drängen. Der größere Teil dieser Kraft zersetzt
sich im inneren Konflikt mit den geltenden Normen und staut sich
im Unbewußten; was dort im Bereich der verdrängten
Dinge bereitsteht, die angeborenen ewigen Werte sowohl als die
Erneuerungskräfte der Uebergangszeit, das sind wir heute
im Stande, der zielbewußten Verwertung verfügbar zu
machen. Das haben wir endlich erreicht als unsere Hoffnung
und unsere Pflicht vor allen anderen Zeiten: es ist eine Aufgabe,
die zu unendlicher Mühe, zu liebevollster Detailarbeit zwingt.
Ihr muß vor allem die souveräne Bedeutung in Unterricht
und Erziehung eingeräumt werden, damit wir
den Weg zur Seele des einzelnen Menschen finden. Und
sie muß überall hemmungslos durchgeführt werden,
mit Aufnahme aller Konsequenzen, im vollen Bewußtsein
des absolut unüberbrückbaren Gegensatzes zu Allem und
Jedem, was heute als Autorität und Institution, als Macht
und Sitte der Menschheitserfüllung im Weg steht.
|
|