Notiz über Beziehungen
Von Otto Gross
Notizen, die Otto Gross wenige Tage vor seiner Einsperrung
mir übergab.
F[ranz]. P[femfert].
Die Beziehung als Drittes, als Religion genommen, enthält
den Zwang zur Individualisierung. Dierser Zwang ist automatisches
Aufzeigen aller Erlebensmöglichkeiten, der Fähigkeiten
zur Aufrechterhaltung aller ins Allgemeine, Zusammenfassende
strebenden psychischen Wärme (Niveaufixierung).
Die Beziehung im heutigen Sinne ist eine Brücke, deren
Pfeiler vom momentanen Erleben Sicherung empfangen, d. i. eine
Kontinuität vortäuschen, deren organisch notwendige
Aufrechterhaltung mit der für ein reines Erleben psychisch
notwendigen Tendenz einer fortwährenden Auflösung und
Veränderung nicht in Einklang zu bringen ist, also eine
Kontinuität mit der Tendenz as sich selbst zu kranken. (Daher
heute reinstes Erleben: Verschmähungskomplex, Wille zum
Sterben.)
Diese Konflikte bestimmen das Erleben, das sich im Durchschnitt
in Kompromissen abschwächt (Formen der Hysterie, Neurose)
und als Normalität projeziert die Angst innerhalb einer
im Unterbewußtsein ständig zusammenbrechenden Kontinuität
ergibt (Langeweile). Die Tendenz zur Überwindung dieser
Angst reißt bei stärkstem Individualitätswillen
Erlebensmomente auf, mit dem Zwang einer für die Allgemeinheit
möglichen Zusammenfassung (Genialität).
Die Konstellation dieses Erlebens führt den Begriff der
Vergewaltigung ein. Der Kern jeder Vergewaltigung ist Schwäche.
Eine Schwäche, die vor der Lebensangst kapituliert, die
den blinden Glauben an die Verdrängung aus Instinkt sich
jeweilig erzwingen muß.
Der Vergewaltiger ist der Kranke, der Untergehende, der das
Zeichen der Inferiorität trägt. Er ist ungefährlich,
sofern der Partner die Reinheit des Erlebens, das Leid aus dem
sich behauptenden Befreiungsstreben der Individualität dem
geforderlen Kompromiß entgegensetzen kann, und er ist Werkzeug,
sofern er als Ausgangspunkt eines Erleidens das Erleben das Partners
produktiv gestaltet.
Dieses Erleiden, das sich zum Leben, zur Intensität expansiv
ausgestaltet, ist für den positiven Menschen in diesem Sinne
der Inhalt einer Beziehung, das Freiwerden einer Mitfreude, die
Kameradschaft, die Religion.
Der aus der Reinheit des Erlebens resultierende Zwang zu dieser
Beziehung ist organisch und psychisch zusammengehende Grundlage
einer neuen Lebensform, Glauben, Sehnsucht und eine die zukünftigen
Zeiten ausfüllende Lebensgemeinschaft.
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